Der Kreis schließt sich

Bericht 63 aus China, geschrieben im Mai von Simone.

Tianjin, Millionenstadt am Meer.

Hier schnupperten wir vor fast 3 Jahren zum ersten Mal die feuchtschwüle Sommerluft Chinas, vermischt mit Flugzeugkerosin. Hier verbrachten wir zwei Wochen unseres Lebens in Hotelzimmern, die wir nicht verließen, mit Essen aus Plastiktüten und der Sicht auf eine Wohnanlage und eine Straße. Jeder Chinese, der hier vorbei ging, wurde für uns ein Prototyp. Hier sammelten wir unsere ersten Eindrücke von dem fremden Land, und hierhin hat es uns jetzt noch einmal zurück gezogen, wenige Wochen vor unserer Ausreise.

Das verlängerte Maiwochenende verbrachten wir in Tianjin, der 14-Millionen-Metropole am Meer, mit dem Schnellzug nur eine halbe Stunde von Peking entfernt.
Was soll ich sagen: Wir dachten, wir würden China inzwischen ganz gut kennen. In Tianjin haben wir es nochmal neu kennengelernt.

Die Binhai-Bibliothek

Die beiden krassesten Erfahrungen für uns waren die Binhai Bibliothek und der Strand.
Von der Bibliothek hatte ich zuvor schon eindrucksvolle Bilder gesehen: lichtdurchflutete, weiße Räume mit einer überdimensionalen Perle in der Raummitte, Bücherregale in Terrassen bis zur Decke. Eine Feier des Buches, der Fantasie, der Reinheit. Im Internet wird sie als eine der schönsten Bibliotheken der Welt gefeiert.

Der Eingang zur Bibliothek war dann durch ein gigantisches Einkaufszentrum, das hätte uns vielleicht schon stutzig machen können. Drinnen fanden wir statt der üblichen Bibliotheksruhe Touristen mit Büchern in der Hand, die sich vor den Bücherregalen fotografieren lassen.

Und dann die Erkenntnis: In den Regalen stehen nur wenige echte Bücher. Was man sieht, ist eine Fototapete mit Büchern. Diese wunderschönen Bücherregale, sie sind leer.

Es ist eine Bibliothek ohne Bücher.

Alles nur zum Anschauen und fürs Foto. Ist sicher auch weniger gefährlich…

Hintendran gibt es in anderen Räumen Lesesäle und echte Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Auch einen Saal mit ausländischer Literatur gibt es, Homer und Dante neben J.K. Rowling und Nora Roberts, alles auf Englisch. Dazwischen eine deutsche Geschichts-Zeitschrift (von Dezember 2019), das Werk Xi Jingpings („China regieren“) und ein Werk mit dem Titel „Ich bleib so scheiße, wie ich bin“.

Wir verlassen diese Bibliothek konsterniert.
Die Besucher schreckt das nicht ab, nachmittags ist die Schlange am Eingang über hundert Meter lang.
Für uns verfestigt sich eine traurige Erkenntnis: Der Inhalt ist nicht wichtig, vielleicht sogar gefährlich, Hauptsache, das Foto wird schön.
Allerdings fragen wir uns auch: Wie viele chinesische Werke werden wir in der Stuttgarter Bibliothek finden? Und welche werden es sein?


Der Strand von Tianjin

Die Bibliothek liegt etwa 50 km vom Stadtzentrum Tianjins entfernt in der Nähe des Hafens. Nicht weit davon gibt es einen Strand, der als Sehenswürdigkeit angepriesen wird. Schwimmen soll dort nicht erlaubt sein, aber auf dem Straßenschild steht „Bathing area“, also fahren wir hin. Oder besser gesagt: Wir stauen uns hin. Dreispurig geht es (im Schritttempo) auf die Halbinsel, schon viele Kilometer vor dem Strand stehen Sandspielzeug-Verkäufer mit Keschern, Eimern und Gummistiefeln (ja) winkend am Straßenrand. Der ist kilometerlang zugeparkt und wir fragen uns, wie lange man von dort aus bis zum Strand laufen muss. Wir fahren ein Stück weiter, bis wir das Meer sehen. Hier parken die Autos dreireihig. Wie die doppelt eingeparkten Autos da raus kommen, sehen wir später: gar nicht. Dann wartet die müde Familie am Straßenrand, bis die anderen endlich wegfahren.
Die Strandpromenade ist ein Betonweg mit künstlichen Blumen, überquellenden Abfalleimern und kleinen Zelten, in denen die Strandbesucher sitzen.

Ein Geländer und 5 Meter weiter unten: das Meer.

Etwas weiter hohe Betonstufen, die zum Wasser führen. Alles voll mit Menschen, die dort sitzen und aufs Meer schauen. Auf der untersten Stufe dicht an dicht Erwachsene und Kinder in Gummistiefeln, die mit Keschern und Plastikeimern im Meer nach kleinen Muscheln fischen.

Das wars. Dann wieder Geländer, wieder Beton-Treppen. Einige wenige Quadratmeter Felsen, auch dort drängen sich die Menschen. Im Wasser: niemand. Zero. Das Wasser hier gilt als sehr verschmutzt und die wenigsten Chinesen können schwimmen. Auf den Fotos im Internet gibt es Sand zu sehen. Wir und die tausenden Chinesen sehen ihn hier nicht. Vielleicht war gerade Flut, als wir und alle anderen dort waren und bei Ebbe gibt es den Sandstrand. So oder so:
Zig tausende Menschen stauen sich stundenlang, um hier ihren Sonntag zu verbringen. Wir sind halb schockiert, halb traurig. Gibt es keinen schönen Strand in der Nähe? Gefällt ihnen das hier? Haben sie noch nie einen echten Strand gesehen? Warum kommen sie hierher? Erzählt jeder, es sei toll gewesen und deswegen kommen alle anderen auch? Die Kinder wirken wirklich zufrieden, sie schaufeln die kleinen Wasserpfützen auf dem Beton in ihre Eimerchen und schlagen die Seepocken von den Treppenstufen.

Ist es gerade deswegen schön, WEIL so viele andere auch hier sind? Es MUSS gut sein, wenn alle herkommen? Was denken sich die jungen Paare, die zwischen den Familien auf den Betonstufen sitzen? Ist es die Faszination des Meeres, die selbst hier wirkt? Denken sie an das, was hinter dem Horizont liegt?
China hat tausende Kilometer Küste. Ist da (auch in der Nähe) keine schöne Küste dabei?

Im Süden Chinas gibt es die tropische Insel Hainan mit echten Traumstränden. Viele SchülerInnen und Lehrer der DSP verbringen dort -egal zu welcher Jahreszeit – die Ferien. Jetzt kennen wir auch den traurigsten Strand Chinas.

Wir haben drei interessante Tage in Tianjin verbracht und damit einen weiteren Punkt auf unserer Liste abgehakt, was wir noch machen wollen, bevor wir in wenigen Wochen nach Deutschland zurückkehren. Jetzt stehen noch ausmisten und Abschied feiern an.

Wir wünschen euch immer gute Bücher und freie Tage am Meer, mit echtem Sandstrand!

Eure Simone

Tianjin bei Nacht

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